Karoline Mayer & Katharina Ritter, Kuratorinnen Architekturzentrum Wien

Kuratorinnen der Ausstellung „Boden für alle“

Klimakrise = Bodenkrise

Die Welt mag flach und unendlich erscheinen, aber sie ist und bleibt rund – mit einer begrenzten Oberfläche. Der Boden, den wir für unser Überleben brauchen, ist eine Ressource, die nicht vermehrbar ist. Es ist erstaunlich, wie oft diese Tatsache wiederholt werden kann und trotzdem noch „Aha“-Erlebnisse hervorruft. Die Zersiedelung des Landes wird schon seit Jahrzehnten angeprangert. Mittlerweile könnten alle Österreicher*innen in bereits bestehenden Einfamilienhäusern untergebracht werden[1], und trotzdem wird weiter Bauland gewidmet, werden neue Einkaufszentren auf der grünen Wiese und Chaletdörfer in den Alpen errichtet. Die fortschreitende Versiegelung trägt zur Klimakrise bei und gefährdet die Ernährungssicherheit. Die Hortung von und Spekulation mit Grundstücken verteuert das Wohnen und führt zu einer schleichenden Privatisierung des öffentlichen Raums. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe und steigender Wohnungspreise stellt sich die Frage, ob der bisherige Weg mit maximalen Kompromissen und minimalen Anpassungen noch tragbar ist. Wo bleibt eine weitreichende und mutige Bodenpolitik?

Mit der Ausstellung und gleichnamigen Publikation „Boden für Alle“ hat sich das Architekturzentrum Wien 2020 das Ziel gesetzt, einerseits die vielen Kräfte, die an unserem Boden zerren, sichtbar zu machen und sich der Komplexität des Themas zu stellen. Andererseits sollten auch viele positive Beispiele aufzeigen, dass der Schlüssel zu einer umweltschonenden, gerechteren und schöneren Welt zu unseren Füßen liegt. Zwei städtische Beispiele sollen belegen, was eine mutige Stadtpolitik und vorausschauende Planung zu verändern vermag:

Top-Down Projekte aus Seoul
Im Jahr 2002 entschied sich die Hauptstadt Südkoreas zum ersatzlosen Abriss einer knapp 6 km langen Stadtautobahn und Freilegung des darunter liegenden Flusses. Der damalige Bürgermeister Seouls Lee Myung-Bak forcierte das Projekt als nachhaltige Entwicklung für die Stadt und Imagekampagne für Korea.

In den 1940er-Jahren war der Cheonggyecheon zu einem offenen Abwasserkanal verkommen, wurde zuerst überplattet und in den 1970er-Jahren mit einer Autobahn überbaut. Nach der Entscheidung für den Abriss der veralteten Hochstraße realisierten die Landschaftsarchitekten Mikyoung Kim Design einen 11 km langen grünen Korridor entlang des nunmehr freigelegten Kanals, der von der belebten Cheonggyecheon Plaza zum historischen Fluss ChonGae führt, wo das Areal zunehmend natürlicher und sumpfartiger wird. 22 Brücken überqueren die neugestaltete Landschaft. Neben der neuen Lebensqualität durch den innerstädtischen öffentlichen Raum dient der Kanal auch als Hochwasserschutz für ein 200-jähriges Hochwasserereignis. Die Biodiversität konnte vervielfacht, die Luftverschmutzung um 35 % verringert und der städtische Wärmeinseleffekt um 3,5 Grad gesenkt werden. Ein erstaunlicher Nebeneffekt ist auch der verbesserte Verkehrsfluss in der Stadt, der die durchschnittlichen Fahrtzeiten reduzierte.

Bereits 10 Jahre später folgte ein weiteres Projekt. Der 7017 Skygarden ist eine Transformierung eines 1 km langen Stücks Stadtautobahn nach den Plänen des niederländischen Architekturbüros MVRDV in eine 10.000 m2 große parkähnliche Fußgängerbrücke, wobei neue Brücken und Stiegenaufgänge die Hochstraße mit angrenzenden Gärten, Geschäften und Hotels verbinden.

Das ebenfalls aus den 1970er-Jahren stammende vierspurige Brückenbauwerk quert die Bahntrasse knapp nördlich der Seoul Station und verbindet den traditionellen Namdaemun-Markt im Osten, über das Bahnhofsgelände zu den verschiedenen Parks im Westen. Den Protesten der Autofahrer wurde eine Studie entgegengehalten, wonach PKWs durch den Verlust der Autobahn vier Minuten längere Fahrwege in Kauf nehmen müssten, während Fußgänger durch die neue Verbindung der zwei bislang getrennten Teile des Stadtviertels eine Einsparung von 25 Minuten zu erwarten hätten. MVRDV schufen einen öffentlichen Grünraum, der sich aus mehreren, kleineren Gärten mit jeweils eigener Identität zusammensetzt – 650 unterschiedlich große Pflanzentröge, deren Bepflanzung die koreanische Flora widerspiegelt. Zusätzlich beleben eine Reihe individuell gestalteter Aktivatoren wie Teecafés, Blumenläden, Straßenmärkte, Bibliotheken und Gewächshäuser den Skygarden.

Gelungener Partizipationsprozess aus Maastricht
Über ein Jahrhundert lang versorgte der ENCI-Steinbruch die Niederlande mit dem Rohstoff Kalk für die Zementerzeugung. In den vergangenen 10 Jahren wurde die künstliche Landschaft renaturiert und bietet nun einen beeindruckenden Raum für Naherholung, seltene Pflanzen und Vögel.

Die seit 1926 betriebene ENCI-Kalkgrube am St. Pietersberg direkt in Maastricht, geriet aufgrund seiner Ausmaße, der Emissionen und des Transportaufkommens zunehmend in die Kritik. Schließlich vereinbarten das Unternehmen, die Stadt Maastricht und die Provinz Limburg im Jahr 2008 vertraglich, die Abbaurechte auf weitere zehn Jahre zu beschränken und den Steinbruch in mehreren Phasen ökologisch zu sanieren. Damit begann ein intensiver Partizipationsprozess zwischen den Interessengruppen Naturorganisationen, Gemeinde und Provinz, Anwohner*innen und dem Unternehmen ENCI, der von einer eigens geschaffenen Stiftung moderiert wird.

Das Projekt besteht aus drei Teilen: dem Steinbruch, der Übergangszone und dem Gewerbegebiet. In einer ersten Phase wurde in der 125 ha großen Grube ein See angelegt, der diese Zone weiterhin feucht hält. Während sich die eine Hälfte des Areals durch einen trockenen, nährstoffarmen Kalkboden auszeichnet, der das Wachstum seltener Pflanzen und die Ansiedlung von Insekten begünstigt, besteht die andere Hälfte aus einem System von Hochebenen, wo mehrere Wasserläufe ein Feuchtgebietsökosystem bilden. Rademacher de Vries Architects begleiteten das Projekt von Beginn an und dirigierten die immensen Erdarbeiten, die noch während des Betriebes des Kalkgrube grossteils durch das Unternehmen selbst und im Zuge des Kalkabbaus realisiert wurden. Die von ihnen entworfene Aussichtsplattform und Treppe entlang der Steilwand führt die Besucher*innen über 200 Stufen entlang einer Route, die wichtige geologische Ereignisse in der Erdgeschichte markiert, hinunter in den Steinbruch.

In der zweiten Bauphase wurde die Übergangszone entwickelt, die das Naturschutzgebiet vom Gewerbegebiet abschirmt. Es handelt sich um einen erhöhten Landstreifen am Rande des Steinbruchs, von dem aus man das gesamte Gebiet überblicken kann und bietet Einrichtungen für Kreativwirtschaft, Tourismus und Bildung sowie ein Begegnungszentrum.

Mittlerweile wird das Areal von der Naturorganisation „Natuurmonumenten“ verwaltet, ist als Natura-2000-Gebiet eingestuft und zum beliebten Naherholungsgebiet für Maastricht und Umgebung geworden.

Beide Projekte illustrieren das Potential für Renaturierung, das Industriebrachen sowie unzeitgemäßer Verkehrsinfrastruktur in Städten innewohnt. Städtische Grünräume sind nicht nur als willkommener Ausgleich für gestresste Städter*innen wertvoll, sie leisten auch einen wichtigen Beitrag zur Biodiversität und haben einen kühlenden Effekt auf das Mikroklima der Stadt. Wenn wir Städte fit für die Zukunft machen und an den Klimawandel anpassen wollen, wird es essentiell sein, nicht jeden Quadratmeter Boden zu verbauen.

Fakten zu Cheonggyecheon Kanalfreilegung
Ort: Seoul, Südkorea

Fertigstellung: 2007

Umfang: 11 km öffentlicher Raum

Aufraggeber*in: Seoul Metropolitan Government

Landschaftsarchitektur: Mikyoung Kim Design, Boston, Massachusetts

Fakten zu Seoullo 7017 Skygarden

Ort: Seoul, Südkorea

Fertigstellung: 2017

Umfang: 938 m öffentlicher Weg

Auftraggeber*in: Seoul Metropolitan Government

Architektur: MVRDV, Rotterdam (Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries mit Wenchian Shi, Kyosuk Lee, Mafalda Rangel, Daehee Suk, Daan Zandbergen, Kai Wang, Sen Yang und Dong Min Lee)

Fakten zu ENCI – Transformation einer Kalkgrube in ein Naturreservat
Ort: Maastricht, Niederlande
Architektur: Rademacher de Vries Architects
Projektentwicklung: Stichting Ontwikkelingsmaatschappij ENCI-gebied

Projektstart: 2008

Fertigstellung: 2020

Fläche: 70.000 m²


[1] Bei einem Schlüssel von 4,16 Personen pro Wohneinheit (8.837.707 Einwohner*innen auf 2.123.597 Wohneinheiten in Ein- und Zweifamilienhäusern). Quelle Statistik Austria, Stand 2018

https://www.azw.at/de/termin/boden-fuer-alle/